Auch nach 20 Jahren, in denen ich die Toskana auf meinen Reisen erkunde, finde ich Pitigliano unwiderstehlich. Jedes Mal aufs Neue fühle ich Vorfreude auf den Moment, wenn nach einer Fahrt über gewundene schmale Straßen die hügelige Landschaft den Blick freigibt auf dieses von Natur und Mensch geschaffene Schauspiel.
Ein Fest für die Augen auch am Abend, dann glänzen Stein und Stadt perfekt illuminiert in der Dunkelheit. Und immer wieder gerate ich ins Schwärmen und kann mich nicht sattsehen an soviel Schönheit. Unter allen etruskischen Städtchen ist Pitigliano mein Lieblingsort.
Oben angekommen, stellt man das Auto auf einem der ausgewiesenen Parkplätze oder in einer Nebenstraße ab und erforscht die Altstadt, in ca. 300 m Höhe auf einem Tuffsteinplateau erbaut, zu Fuß. Flache Schuhe sind dafür am besten geeignet. Auch im historischen Zentrum geht es auf und ab, mancher Weg zum lohnenswerten Aussichtspunkt führt über eine schiefe Treppe oder Gasse.
Tolle Sehenswürdigkeiten und sehr viel Geschichte
Gleich am Ortseingang locken auf der Piazza Petruccioli einige Terrassencafés mit herrlicher Aussicht ins Tal, hohe Festungsmauern gegenüber schützen die Stadt. In der Dämmerung setze ich mich gern auf diesen Platz, um hier beschaulich einen Aperitivo zu genießen. Durch das mächtige Tor gelangt man ins Stadtinnere, schlendert links an den hohen Bögen des Aquädukts vorbei, das die Medici im 17. Jh. in der Absicht vollenden ließen, die Stadt mit Wasser zu versorgen. Nach wenigen Schritten schon steht man rechts vor der trutzigen Fortezza Orsini mit dem gleichnamigen Palast darin, deren Namensgeber das römische Geschlecht der Orsini ist. Seit Ende des 12. Jhs. hatten diese hier ihren Herrschersitz inne, der im 17. Jh. in den Besitz der florentinischen Großherzöge Medici überging. Heute beherbergt die restaurierte Burg mit Innenhof und typischem Renaissancebrunnen ein Museum für religiöse Kunst und eine archäologische Sammlung.
Das Herz der Altstadt – die Piazza della Repubblica
Die Via Cavour mündet auf einen weitläufigen herrschaftlichen Platz, dessen Grandezza die nahezu spiegelbildliche Gestaltung mit zwei barocken Brunnen ausmacht. Obwohl die Piazza della Repubblica sich an beiden Seiten zum Tal hin öffnet, bin ich parteiisch und bevorzuge mittags und abends die rechte ruhigere Hälfte, wo sich das Restaurant LA ROCCA unserer Freundin Fortuna befindet. An mit weißem Tafeltuch gedeckten Tischen kann man im Freien ein köstliches Menü verspeisen und den Kindern ihr Lieblingsgericht Pizza servieren lassen. Hierher kommen auch die Einheimischen, denn das Essen ist italienisch bodenständig und gut, der überwiegend regionale Wein qualitativ angemessen, die Preise sind erfreulich. Aber die Lage des LA ROCCA mit Blick auf die Piazza oder den traumhaften Sonnenuntergang im Tal ist unbezahlbar! Vor allem in der Hochsaison sollte reservieren, wer draußen sitzen möchte (+39 0564 614267).
Die Laune der Kleinen zu heben oder nur, um sich selbst ein süßes Extra zu gönnen, kommt man an der auf der Ecke der Piazza gelegenen Eisdiele BAR CENTRALE GELATERIA vorbei. Das Eis ist hausgemacht, es gibt jeden Tag wechselnde Sorten, eine besser als die andere. Pistazie ist mein Gewinner!
Verwinkelte Gassen zieren das Stadtbild
Dann folgt man der Via Roma oder der Via Zuccarelli und findet nette kleine Läden mit mancherlei Kunsthandwerk, Töpferwaren, spitzengesäumten Tischdecken, Handstickerei, Bekleidung und Schmuck im modernen Hippiestil sowie Lederwaren. Die Geschäftchen sind im Erdgeschoss uralter Gemäuer, oft in ehemaligen Werkstätten untergebracht, die Besitzer sind überwiegend jung, man trifft aber auch auf einige Aussteiger der 60er oder 70er Jahre. Dazwischen haben viele kleine Restaurants und Pizzerien Tische und Stühle auf die ohnehin schon engen Gassen gestellt und laden zum gemütlichen Verweilen ein.
Im Gewirr der mittelalterlichen Wege führt die Via Roma direkt auf den Papst Gregor VII aus dem Adelsgeschlecht der Orsini gewidmeten Platz, auf dem sich die hübsche Säule mit dem Orsini-Bären befindet.
Nicht nur Kinder freuen sich über das drollige Häschen, das Wappentier der auf dieser Piazza ansässigen HOSTARIA DEL CECCOTINO. Hier speist und trinkt man nobel, entweder direkt auf der Holzterrasse vor dem Restaurant oder noch lieber unter dem steinernen Gewölbe einer ehemaligen Markthalle gleich gegenüber. Aber es ist auch deutlich teurer als im LA ROCCA. Trotzdem ist das CECCOTINO jedem Feinschmecker zu empfehlen. Das hervorragende toskanische Essen und das Verweilen in der außergewöhnlichen Atmosphäre der Piazza, auf der auch der Dom mit massigem Turm steht, schließen einen genussreichen Urlaubstag ab. In den Sommermonaten bitte einen Tisch vorbestellen (+39 0564 614273).
Die jüdische Geschichte von Pitigliano
Umfassende Restaurierungsmaßnahmen, vor allem das Gespür der Denkmalpfleger für die historisch gewachsene Struktur haben Pitiglianos ursprünglichen Charakter bewahrt. Die mittelalterliche Atmosphäre ist besonders in dem ehemals jüdischen Viertel Piccola Gerusalemme (Kleines Jerusalem) zu erleben. Ins jüdische Ghetto, im 16. Jh. gegründet, gelangt man über den Vicolo Manin. Hier sind die Häuser noch schmaler, die Gassen noch enger, Durchgänge und Treppen verwinkelter als im christlichen Teil der Altstadt. Das Quartier wirkt unübersichtlich, gedrängt, und vermittelt so einen Eindruck von den bedrückenden Lebensverhältnissen der einstigen Bewohner, die hier vor Vertreibung und Verfolgung geschützt waren. Zu besichtigen sind die Synagoge, in der heute das Jüdische Museum untergebracht ist, Matze-Öfen sowie ein aus dem Fels geschlagenes Kultbad. Kleine Tavernen und Shops beleben heute dieses geschichtsträchtige Viertel.
Piccola Gerusalemme ist ebenfalls die Bezeichnung für einen koscheren Wein, der ohne den Konservierungsstoff Schwefel seit dem Mittelalter hier produziert wird. Auch gegenwärtig sind die in Pitigliano gekelterten Rot- und Weißweine beachtenswert. Und anlässlich der Festa della Cantina, dem jährlichen Weinfest am ersten Septemberwochenende, sind die in den Tuff gehauenen, seit Jahrhunderten genutzten Privatkeller für Verkostungen geöffnet. Die beste Gelegenheit, den leichten trockenen Bianco di Pitigliano zu probieren!
Wer tiefer in die Geschichte der Bevölkerung der Südtoskana eintauchen möchte, der muss den Spuren der Etrusker folgen. Von der etruskischen Erstbesiedlung, lange vor den Römern, ist im Städtchen Pitigliano zwar nichts übrig geblieben. Aber es gibt etruskische Nekropolen in der Umgebung, die von dieser einstigen Hochkultur Zeugnis ablegen. So befindet sich die Necrópoli di Póggio Buco mit zahlreichen Felsengräbern in nur 8 km Entfernung. Die Anlage ist frei zugänglich; Wanderschuhe werden empfohlen. Für Familien mit Kindern ist der Besuch des archäologischen Museums all’ Aperto Alberto Manzi, 2,5 km von Pitigliano entfernt, jedoch besser geeignet. In der abwechslungsreichen Ausstellung steht u.a. ein etruskisches Wohnhaus. Gut restaurierte etruskische Grabstätten und zwei mit Tüchern abgedeckte „Mumien“ warten auf Entdeckung.